Gesundheits- und Pflegewesen in der Krise: Zwischen Ökonomie, Ethik und Versorgungssicherheit
- Siegfried Niebius
- vor 4 Tagen
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Ausgangslage: Wenn Wirtschaftlichkeit über Versorgung steht
In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen von Fachleuten, Pflegekräften und Patient*innen, die ein strukturelles Ungleichgewicht im deutschen Gesundheitswesen beklagen: Wirtschaftliche Erwägungen scheinen zunehmend die Qualität der Versorgung zu überlagern. Diese Entwicklung ist kein plötzliches Phänomen, sondern Ergebnis einer schleichenden Ökonomisierung, die auf Effizienzsteigerung und Kosteneinsparung setzt – oft zulasten des Personals und der Versorgungsqualität.
In Pflegeeinrichtungen wie auch in Krankenhäusern zeigen sich die Folgen besonders deutlich: Der anhaltende Personalmangel, ausgelöst durch Stellenabbau und schlechte Arbeitsbedingungen, führt zu chronischer Überlastung. In einem solchen Umfeld sinkt die Arbeitszufriedenheit, während gleichzeitig das Risiko für Versorgungsdefizite wächst. Die Verbindung dieser beiden Sektoren – Krankenhaus und Pflege – liegt nicht nur in der gemeinsamen Ausbildung vieler Fachkräfte, sondern auch in strukturellen Parallelen: Beide Systeme stehen unter massivem ökonomischem Druck und müssen dabei einen öffentlichen Auftrag erfüllen.
Gemeinnützige Träger: Ein Modell mit Potenzial
Angesichts dieser Entwicklung rückt ein alternativer Ansatz stärker ins Blickfeld: gemeinnützige Trägerschaften. Sie verfolgen keine Gewinnerzielung als oberstes Ziel, sondern arbeiten gemeinwohlorientiert – oft mit einem ganzheitlichen Blick auf die Bedürfnisse der Patient*innen und Pflegebedürftigen.
Zahlreiche Expert*innen sprechen sich deshalb für eine Stärkung gemeinnütziger Strukturen aus. Sie bieten die Chance, ethische Grundwerte und soziale Verantwortung wieder stärker in den Mittelpunkt des Handelns zu rücken. Zwar sind auch diese Einrichtungen auf wirtschaftliche Stabilität angewiesen, doch ihre strategische Ausrichtung erlaubt es ihnen häufig, längerfristig zu denken und Investitionen an sozialen Bedarfen statt an Renditezielen auszurichten. In einem System, das nach Orientierung sucht, können sie als ethischer Kompass dienen.
Politische Reformversuche: Viel erkannt, wenig umgesetzt
Auch die Politik hat die Problematik erkannt. Der frühere Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach betonte mehrfach die wachsenden ökonomischen Herausforderungen, die sowohl Krankenhäuser als auch Pflegeeinrichtungen belasten. Unter dem Druck von Wirtschaftlichkeitsvorgaben, so seine Analyse, geraten medizinische und pflegerische Entscheidungen zunehmend in Konflikt mit dem Patientenwohl.
Seine Reformvorschläge zielten auf eine neu gedachte Finanzierung, Bürokratieabbau und Synergien zwischen den Versorgungssektoren. Derartige Ansätze erscheinen vielversprechend – auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung. Doch bislang sind diese Vorhaben nur teilweise umgesetzt worden. Die Trägheit politischer Systeme, verbunden mit mächtigen Interessengruppen, scheint effektive strukturelle Veränderungen zu bremsen.
Internationale Perspektiven: Was Deutschland lernen kann
Ein Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt, dass es durchaus gelingen kann, ein Gesundheitssystem sozial ausgewogen und wirtschaftlich tragfähig zu gestalten. Länder wie Schweden und Norwegen haben ihre Versorgung weitgehend öffentlich organisiert und garantieren ihren Bürger*innen den Zugang zu medizinischen und pflegerischen Leistungen – flächendeckend und ohne Eigenbeteiligung.
Auch die Niederlande und Australien gehen innovative Wege, indem sie staatliche Steuerung mit privatwirtschaftlichen Elementen verbinden. Die Ergebnisse: stabile Versorgungsstrukturen, hohe Zufriedenheit der Bevölkerung und gut ausgestattete Einrichtungen. Diese internationalen Beispiele belegen: Eine gute Versorgung muss nicht zwangsläufig renditegetrieben sein – sondern kann durch kluge Regulierung und faire Finanzierungsmodelle gestützt werden.
Privatwirtschaft im Gesundheitssektor: Realität und Widersprüche
Privatkliniken: Zwischen Effizienz und Gemeinwohl
Rund 37 % der Krankenhäuser in Deutschland sind heute in privater Hand. Allerdings machen sie nur rund 17–19 % der stationären Kapazitäten aus – viele betreiben kleinere Einrichtungen im ländlichen Raum. Große Klinikkonzerne wie HELIOS, Asklepios, Sana oder Rhön Klinikum sind inzwischen zentrale Akteure im Markt.
Ihre Rolle ist ambivalent: Einerseits gelingt es ihnen, durch professionelles Management und Investitionen wirtschaftlich angeschlagene Häuser zu sanieren. Andererseits kritisieren viele, dass sich wirtschaftlicher Erfolg oft mit Personalabbau, Arbeitsverdichtung und einem Fokus auf lukrative Behandlungen erkauft wird. Der Anspruch, dauerhaft tragfähige Strukturen zu schaffen, steht im Spannungsfeld zwischen ökonomischem Zwang und gesellschaftlicher Verantwortung.
Pflegeeinrichtungen: Ein Markt mit Risiken
Im Bereich der Altenpflege liegt der Anteil privatwirtschaftlicher Träger bei über 40 %, im ambulanten Bereich sogar bei knapp 70 %. Private Anbieter bringen oft innovative Konzepte auf den Markt – etwa in der Tagespflege oder im betreuten Wohnen. Doch der ökonomische Druck ist hoch, insbesondere durch steigende Löhne, Energiekosten und bürokratische Anforderungen.
Kritiker warnen: Wenn Pflegeeinrichtungen als Renditeobjekte geführt werden, entsteht ein Zielkonflikt zwischen Profit und Pflegequalität. Diese Spannung tritt besonders dann zutage, wenn Investoren renditeorientierte Strategien verfolgen und dafür notwendige Pflegeleistungen minimieren oder Personalressourcen ausdünnen.

Aktuelle Entwicklungen: Heimsterben und Klinikschließungen
Die Krise hat längst konkrete Auswirkungen:
Im Jahr 2024 mussten über 1000 Pflegeeinrichtungen in Deutschland schließen oder Insolvenz anmelden – ein Prozess, der als „Heimsterben“ in die öffentliche Debatte einging.
Gleichzeitig wurden 24 Krankenhäuser geschlossen und mehrere Fachabteilungen, darunter 16 Geburtshilfestationen, aufgegeben.
Viele dieser Entscheidungen sind eng mit der Ende 2024 eingeleiteten Krankenhausreform verbunden. Diese Reform sollte zwar Effizienz und Qualität verbessern, stellt jedoch für viele Einrichtungen eine wirtschaftlich nicht tragbare Herausforderung dar.
Diese Entwicklung verschärft die Versorgungskrise: Wartelisten wachsen, Angehörige kämpfen um Pflegeplätze, und ländliche Regionen verlieren wichtige Versorgungsstrukturen. Die Folge: eine drohende soziale Schieflage, die langfristig das Vertrauen in den Staat und seine Daseinsvorsorge erschüttern könnte.
Zukunftsperspektiven: Was es jetzt braucht
Die Zukunft des Gesundheits- und Pflegesystems hängt maßgeblich davon ab, ob es gelingt, wirtschaftliche Stabilität und soziale Verantwortung in Einklang zu bringen. Das bedeutet nicht, wirtschaftliches Denken aus dem System zu verbannen – aber es darf nicht zum alleinigen Maßstab werden.
Notwendig sind:
Leistungsgerechte Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen
Investitionen in Personal, Digitalisierung und Infrastruktur
Klar definierte Qualitätsstandards – unabhängig vom Trägermodell
Transparente Steuerung und vorausschauende Planung
Ob ein Haus privat oder gemeinnützig geführt wird, sollte nicht entscheidend sein. Entscheidend ist, dass es verlässlich, menschenwürdig und bedarfsgerecht arbeitet.
Plädoyer für Balance und Verantwortung
Das deutsche Gesundheits- und Pflegesystem steht an einem Scheideweg. Die Frage lautet nicht, ob privatwirtschaftliche oder gemeinnützige Anbieter „besser“ sind. Die entscheidende Herausforderung besteht darin, ein wertebasiertes Versorgungssystem zu schaffen, das tragfähig ist – ökonomisch wie ethisch.
Gemeinnützige Träger, internationale Vorbilder und politischer Gestaltungswille bieten Anknüpfungspunkte für einen Wandel. Was es jetzt braucht, ist Mut zur Entscheidung: für Versorgung statt Verwertung, für Verantwortung statt Rendite.
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