Die Prignitz hat das kleinste Altenheim Brandenburgs
- Siegfried Niebius
- 17. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
Aus Märkische Allgemeine Digital Prignitz vom 26.09.2023 von Josa Mania-Schlegel

Herr Lenz wirkt müde. Ganz hinten auf der Terrasse hat er Platz genommen. Ein kleiner, dünner Mann im Karo Hemd, an dessen rauen Händen man die Kraft seines früheren Lebens erahnen kann. Die Terrasse ist sein Lieblingsplatz, denn von hier aus hat er alles gut im Blick. Den grünen Garten. Die Fontäne. Das große Tor, dessen gepflasterte Einfahrt in jene Welt führt, von der auch er einmal Teil war.
Wenn man ihn fragt, dann spricht Herr Lenz. Manchmal beantwortet er die Fragen. Dass er aus Thüringen kommt. Dass er gern Gitarre gespielt hat. Was seine fünf Mitbewohner früher gearbeitet haben, weiß Herr Lenz nicht. Vielleicht ist das nicht schlimm, schließlich wissen sie es zum Teil auch nicht. Dass Herr S. selbst einmal Ingenieur war, weiß er nicht mehr.
Herr Lenz heißt nicht wirklich Herr Lenz. Aber weil er selbst nicht mehr verlässlich darüber entscheiden kann, ob er in der Zeitung auftauchen möchte, haben wir seinen und die Namen aller anderen Bewohner in diesem Text verändert.
Nun sagt Herr Lenz: „Früher saß ich im Keller und habe geguckt, dass nichts passiert.“ Und dann: „Man muss immer aufpassen, dass nicht die falschen Leute kommen.“ Manches, das Herr Lenz sagt, ergibt nicht direkt einen Sinn. Jedenfalls nicht für die Menschen, deren Welt hinter der Toreinfahrt beginnt.

Etwa 800.000 Menschen werden in Deutschland im Heim gepflegt. Manche, weil es ihre Kinder nicht mehr schaffen, können oder wollen. Oder, weil Pflegebedürftige keine Angehörigen haben. Aber nicht für alle ist das Heim ein geeigneter Ort. Wer sich heute in der Pflegebranche umhört, der bekommt den Eindruck: Deutschlands Pflegeheime werden immer weniger gute Orte.
Das lässt sich mit Zahlen belegen. Der deutsche Pflegerat schätzt, dass im Jahr 2030 rund 500.000 Pflegekräfte fehlen werden. Aber schon heute sind viele Stationen überlastet. Wer heute nur schwerlich einen Pflegeplatz für seine eigenen Eltern findet, kann sich schon einmal gefasst machen, für sich selbst gar keinen mehr zu bekommen.
Während eine ganze Branche ächzt, gleicht der MartinsHof in Kümmernitztal, Ortsteil Grabow, im Amt Meyenburg in der Prignitz einem Idyll. Wie kann das sein?
Siegfried Niebius streicht über eine Wand. „In diesem Haus ist mein Vater aufgewachsen.“ 2000 kaufte er den Hof, der damals eine Ruine war, seinen Eltern ab und begann, gemeinsam mit seiner Frau, ihn zu renovieren. „Ich bin während dieser Zeit hier sowas von aufgewacht und fit geworden, da dachte ich: Dann muss es ja anderen auch so gehen.“
Aus dem Elternhaus wurde ein Ferienhof für Menschen mit Handicap. Mit einem Fahrdienst holte Niebius seine Gäste zu Hause oder im Altenheim ab. „Wenn wir sie wiederbrachten, wollten sie die Pflegekräfte manchmal gar nicht mehr hereinlassen: Sie erkannten sie nicht mehr, weil sie so erholt aussahen.“ Man merkt, dass Niebius diese Geschichte gern erzählt.
Heute ist der MartinsHof das kleinste Altenheim Brandenburgs. Sechs Pflegekräfte und sechs Bewohnerinnen und Bewohner. „Wir sind eine kleine Pflegefamilie“, sagt Niebius. „Wir machen keine Gewinne und keine Schulden. Und wenn wir mal einen Platz frei haben, darf man das eigentlich gar niemandem erzählen.“
Herr Lenz scheint inzwischen in Gedanken versunken und nicht zu bemerken, dass Gabriela Dittmar ihm ein Glas Wasser und einen Keks auf den Tisch stellt. Auch ihre Hände sind über die Jahre rau geworden, vom häufigen Einsatz von Desinfektionsmittel. „Jetzt ist es schön“, sagt sie.
Früher war Dittmar Krankenschwester in der Forensik, einer psychiatrischen Anstalt für Straftäter. Als sie das Angebot vom MartinsHof bekam, sagte sie sofort zu. In ihrem Kollegium am MartinsHof arbeiten nur Quereinsteiger: eine Gärtnerin, eine Schäferin, ein Bankkaufmann, ein Maler.
Vielleicht ist auch das ein Grund für die Harmonie: Die Menschen, die hier arbeiten, mussten nie im Auftrag eines börsennotierten Großkonzerns pflegen. Fragt man Dittmar, warum sie ihren Job schätzt, sagt sie: „Wir pflegen nicht nur, wir schmeißen hier den Haushalt. Wir putzen, waschen und gehen einkaufen.“

Aber nicht jeder kann einfach im MartinsHof seine Eltern abgeben. Auch nicht, wenn gerade ein Platz frei ist. Bevor wir jemanden aufnehmen, mache ich mir ein Bild von dessen Umfeld“, sagt Niebius. Er setzt sich ins Auto und fährt in die Heimat seiner Bewerber. Er lernt ihr altes Zuhause kennen, ihre Verwandten, ihr Umfeld, ein Stück weit: Ihr altes Leben. Jemand, der nachts ganz laut Radio hört, passt eher nicht zu uns“, sagt er.
Zu den Wahrheiten eines Altenheims gehört: Im besten Fall leben die Menschen hier noch eine Weile und sterben dann. „Unser Ziel ist, dass die Menschen bei uns etwas weniger schnell alt werden“, sagt Niebius. Manchmal verändern sich die Menschen auch. Herr Schauer lebte Jahrzehnte lang am MartinsHof. Ein Mann mit Kraft in den Armen, der im Bergbau arbeitete. Der aber auch ein schweres Leben hatte.
Am MartinsHof blühte Herr Schauer auf. „Friede kam in seinen Körper“, sagt Niebius. Plötzlich ging Herr Schauer wieder zweimal am Tag schwimmen. Dann wurde. seine Krankheit schlimmer, eine psychische Erkrankung. Als es ganz schlimm wurde, rief Niebius den Pfarrer aus Putlitz hinzu. Dieser kam, sang, betete mit dem alten Mann. Sie sprachen noch einmal über seine Arbeit, als hätte er gleich morgen früh wieder Dienst. Anderthalb Wochen später starb Herr Schauer.
„Wenn sich die Leute bei uns verändern, dann müssen wir alle mitschwingen“, sagt Niebius. „Ich sehe es meinen Mitbewohnern im Gesicht an, wenn etwas mit ihnen nicht stimmt; aber auch, wenn sie glücklich sind.“ Mitbewohner, so sagt Niebius das. Er lebt im oberen Stockwerk des MartinsHofs. Er hat dort ein Schlafzimmer, ein Badezimmer und einen begehbaren Kleiderschrank.
„Ich arbeite so lange weiter, wie ich kann“, sagt er. „Aber ich kann hier auch alt werden.“ Ihm ist klar, dass das ganz zwangsläufig passiert. Seine Mitbewohner sind zum Teil jünger als er. „Vielleicht gehöre ich eines Tages zu denen, die hier gepflegt werden“, sagt er.
Vor einigen Jahren holte Niebius seinen eigenen Vater zu sich in den MartinsHof. Er lebte dort bis kurz vor seinem Tod. Und Niebius beobachtete, wie er die alten Räume, Wände und Geschichten seiner Kindheit wiederentdeckte. Hat Niebius einen Wunsch für sein eigenes Altwerden? Er hält kurz inne. „Noch nicht“, sagt er dann. „Ich bin total verrückt auf Leben.“ Josa Mania-Schlegel
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